"Das war schon sehr speziell und äußerst spannend": Interview mit Tilo Wolff (Lacrimosa)

"Das war schon sehr speziell und äußerst spannend": Interview mit Tilo Wolff (Lacrimosa)
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www.mesmika.com

Vor genau 30 Jahren veröffentlichte Lacrimosa ihr legendäres und durchaus innovatives Album „Satura“, das ohne Übertreibung eine sehr wichtige Rolle in der Geschichte der Band spielte sowie das entzückende Album „Stille“, das voriges Jahr sein 25-jähriges Jubiläum feierte. Das ist Grund genug für Mesmika, Maestro Tilo Wolff, ein paar Fragen zu diesen wunderschönen Daten zu stellen!

- Hallo Tilo, 30 Jahre "Satura", herzlichen Glückwunsch!

Tilo Wolff: Vielen Dank!

- Hättest Du vor 3 Dekaden gedacht, dass wir im Jahre 2023 noch über das Album reden werden und Du mit Lacrimosa noch im Geschäft bist? Welche Ziele hatte der damals 21 jährige Tilo Wolff?

Tilo Wolff: Nein, soweit hatte ich damals nicht gedacht. Ich hätte nicht einmal gedacht, dass ich das Jahr 2023 überhaupt erleben würde. Wenn man 21 ist, ist der Zeithorizont deutlich eingeschränkter. Umso mehr freut es mich, dass wir heute noch über dieses Album sprechen, an dessen Produktion ich mich noch sehr gut erinnern kann, und das ich selbst bis heute noch sehr, sehr gerne höre!

- "Satura" kann man als einer der wichtigsten Alben von Lacrimosa sehen, weil das Album in einer gewisser Weise Vorreiter von "Inferno" ist und hat die musikalische Richtung eingeschlagen, die Du bis heute im großen und ganzen verfolgst. Außerdem hast Du da nicht mehr alles alleine im Studio gemacht, sondern hattest auch andere Musiker dabei. Welche besondere Erinnerungen hast Du an das Album, wie ist "Satura" entstanden?

Tilo Wolff: Bereits auf dem Vorgänger «Einsamkeit» hatte ich Gastmusiker eingeladen, aber auf «Satura» wollte ich nun deutlich mehr Gitarre und einen organischeren Sound erzielen, weshalb Du dieses Album zurecht als gewissermaßen wegweisend bezeichnet hast. Eine Violinistin, in deren Wohnung wir zusammen das Intro geprobt hatten, ein Gitarrist, der mir meine erste Gitarrenstunde gegeben hatte, und gleichzeitig mein erster Live-Gitarrist war, und ein Bassist, den die Meisten als den Zeichner unserer Covers kennen. Das war schon sehr speziell und äußerst spannend. Keinem war so richtig klar, was ich mit ihnen vorhatte, und doch haben alle mitgemacht und umgesetzt, was ich ihnen eingeflüstert hatte. Und das über viele Monate hinweg, da ich mir nie mehr als ein bis zwei Tage am Stück im Tonstudio leisten konnte, was zu dieser langen Produktionszeit führte.

- Leider gibt nicht so viele Interviews und Informationen aus der Zeit zu finden. Kannst Du uns jetzt erzählen was hinter dem Titel "Satura" steckt und ein paar Worte zu Cover sagen?

Tilo Wolff: Zu den Texten und Inhalten der einzelnen Stücke äussere ich mich selten, doch zu «Satura» kann ich sagen, dass sich dieser Song inhaltlich mit der Sprachlosigkeit des Herzens und der Tragödie verpasster Chancen handelt, sowie um das Gefühl ungerechtfertigter Be- und Verurteilung. Ja, und mit den Albumcovern versuche ich immer, die Emotionen des gesamten Albums einzufangen und widerzugeben. Ein Bild, dass die Emotionen, die Inhalte, die Stimmung des Albums visualisiert. Dabei gehört «Satura» nach wie vor zu einem meiner Liebsten Cover, ja, zu einem meiner Liebsten Alben insgesamt!

- Du hast mal gesagt dass Dein Lieblingsstück von den Album "Flamme im Wind" ist. Ist das immer noch so und warum? Ich finde auch "Versuchung" großartig und sehr speziell. Kannst Du auch was zu den Song erzählen?

Tilo Wolff: Fast immer, wenn ich meine Alben höre, kristallisiert sich ein anderer Favorit heraus. Als ich damals gefragt wurde, war es wohl «Flamme im Wind». Wenn Du mich heute fragen würdest, wäre es «Das Schweigen». Aber auch «Versuchung» war lange Zeit mein Favorit. Ja, hier verarbeite ich eine sehr dunkle Zeit meines Lebens, die darin ihren Höhepunkt findet, dass ich lieber sterben wollen würde, als dies noch einmal zu erleben. Mit Musik kann man Abdrücke, Vertiefungen und Wunden der Seele lindern. Und dies hat auch nach 30 Jahren noch Bestand!

(Photo: Tanja Ash / Mesmika)

- Das Jahr 1993 ist auf jeden Fall was besonderes für Lacrimosa, es ist nicht nur 30 Jahre "Satura", sondern auch 30 Jahre Bühnenpräsenz, erste Videoclip, 1993 hast Du auch Anne kennengelernt. Der Rest ist pure Erfolgsgeschichte. Möchtest Du das alles irgendwie dieses Jahr feiern? Können die Fans dies anlässlich was spezielles erwarten?

Tilo Wolff: Du hast recht, es gäbe viele Gründe, dies alles zu feiern. Doch daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich bin mitten in verschiedenen Projekten und werde mit der Umsetzung dieser voll auf beschäftigt sein. Doch wenn diese alle aufgehen, gibt es tatsächlich schöne Gründe zu feiern!

- 4 Jahre später erschien "Stille", welches auch letztes Jahr sein 25jährige Jubiläum gefeiert hat. Ein absolutes Meisterwerk von Dir, der bis heute kein bisschen an Magie verloren hat. Welche Erinnerungen hast Du an diese Zeit und was fällt Dir als erstes ein, wenn Du an "Stille" denkst?

Tilo Wolff: Zwei Dinge fallen mir als erstes ein. Erstens, dass ich auf "Stille" eine blitzsaubere Produktion abliefern wollte, und zweitens, dass ich mir jahrelang zu diesem Album anhören musste, dass es das schlechteste Lacrimosa Album sei und ich nach «Stille» besser hätte aufhören sollen.

- Leider können wir nicht über alle Stücke reden, aber lass uns über ein paar Songs sprechen. "Stille" hat euch einen großen Durchbruch gebracht. Danach ging es nur noch nach oben. Trotzdem hast Du ein Lied wie "Siehst Du mich im Licht" geschrieben. Gab es da ein bestimmtes Ereignis als Grund für den Song? Und wie ist heute dein Verhältnis zur Presse im Zeitalter des Internets?

Tilo Wolff: Bekannt geworden ist Lacrimosa bereits 1993 mit «Alles Lüge». Dieser Song wurde in Gothic wie auch erstaunlicherweise in Metal Clubs rauf und runter gespielt und katapultierte uns von heute auf morgen ins Zentrum des Interesses. Sogar in Boulevard Magazinen wurde plötzlich über Lacrimosa berichtet. Ja, und das führte schließlich zu dem Text «Siehst Du mich im Licht?». Das hatte also schon alles eine längere Vorgeschichte.

- "Deine Nähe" und "Der erste Tag" gehören für mich immer noch zu emotionalsten und kompliziertesten Songs von Lacrimosa und sie sind ein absoluter musikalischer Genuss. Allein schon deswegen, dass in den Songs so viel passiert. Es ist wie eine musikalische Achterbahn. Wie entstehen solche Lieder? Du hattest damals eine top Mannschaft an Musikern, hatten sie auch einen Einfluss auf die Songs?

Tilo Wolff: Wenn ich ins Studio gehe, sind die Kompositionen abgeschlossen und ich suche dann nach Musikern, die das komponierte umsetzen können. Das führt dann auch einmal dazu, dass wir Aufnahmen abbrechen und mit anderen Musikern weitermachen. Je nach dem, was der jeweilige Song und die jeweilige Produktion bedarf. Und was die Komplexität dieser und anderer Songs anbelangt, geht es mir oft darum, musikalisch zu reflektieren, was Worte nur schemenhaft transportieren können. Musik als Sprache, als direkte Berührung des Herzens. Musik ist so großartig und ich freue mich immer, wenn sie sich entfalten kann!

- Einer der größten Songs in der Lacrimosa Geschichte ist natürlich "Die Straße der Zeit". Ein Lied das immer aktuell ist - heute wie nie. Erinnerst Du dich, wie Du diesen Song geschrieben hast und was er für Dich bedeutet?

Tilo Wolff: Ich finde es so traurig und frustrierend, dass die Menschheit nicht aus ihren Fehlern lernt! Wir drehen uns immer im Kreis und kommen nicht voran. Wie vor hundert Jahren, vor dem ersten Weltkrieg, schreien alle wieder nach Aufrüstung und glauben, mit Gewalt Lösungen herbeiführen zu können, wieder und immer noch werden die Menschen von selbstgerechten, egoistischen und machthungrigen Politikern schikaniert, und die Medien treiben die Massen vor sich her, nicht aus Ideologie oder aufgrund einer gemeinsamen Verschwörung, sondern alleine, weil Zeitung XY oder Fernsehsender YZ Geld verdienen und Herr und Frau Journalisten ihre Jobs behalten wollen. Und schlechte Nachrichten für das Volk sind eben gute Nachrichten für die Medienmacher.

- Würdest Du mir zustimmen, wenn ich sage, dass Lacrimosa auf "Stille" ihren Stil gefunden hat und gleichzeitig einen neuen Stil in Metal erfunden hat? Zwar ist es natürlich Gothic Metal, trotzdem gibt es immer noch keine andere Band, die ähnlich wie Lacrimosa klingt. Ist Lacrimosa ein Unikat?

Tilo Wolff: Ich kenne leider auch keine andere Band, die wie Lacrimosa klingt, ich würde sie nämlich gerne hören! Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Allerdings würde ich nicht sagen, dass Lacrimosa seinen Stil erst auf «Stille» gefunden hat, aber sicher zeigt dieses Album eine wichtige und nicht wegzudenkende Facette Lacrimosa. 

- Vielen Dank für das Interview!

(Photo by schokopixel.de)

Interview: Denis Köln

https://lacrimosa.com/