"Lacrimosa ist keine eindimensionale Musik": Interview mit Tilo Wolff (Lacrimosa)

"Lacrimosa ist keine eindimensionale Musik": Interview mit Tilo Wolff (Lacrimosa)
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Die deutsche Band LACRIMOSA gilt zu Recht als Aushängeschild der Dark-Gothic-Szene. Seit nunmehr drei Jahrzehnten begeistern der Ausnahmemusiker Tilo Wolf und seine Bandkollegin Anne Nurmi ihre Fans mit außergewöhnlicher Musik. Diesmal beschenkte der Maestro alle zu Weihnachten und am 24. Dezember erschien das vierzehnte Album der Band „Leidenschaft“. Mesmika sprach mit Tilo Wolff über das neue Album, die Schwierigkeiten während der Pandemie und die fernen Neunziger.


- Hallo Tilo! Ich möchte dir gleich noch ein frohes und ein gutes Jahr wünschen! Wie geht es dir? Wo bist du gerade und mit was bist du gerade beschäftigt?

TILO WOLFF: Dankeschön! Und auch Dir wünsche ich das Beste für 2022! Ich bin zur Zeit in Deutschland und beschäftige mit einem Projekt im Rahmen des neuen Albums «Leidenschaft», zu dem es in Kürze mehr zu erfahren geben wird.

- Leider ist dieses Thema immer noch aktuell und relevant. Wie hat sich die Pandemie auf dich persönlich ausgewirkt und was denkst du über die Vakzinierung? Gibt es positive Aspekte dieser ganzen Pandemiesituation für die Menschheit im Allgemeinen?

TILO WOLFF: Derzeit sehe ich leider keine positiven Aspekte, die der Menschheit aus dem Erlebnis der Pandemie ziehen wird. Wie immer in der Entwicklung der Gesellschaften, profitieren manche Wenige von Krisen, während die Mehrheit darunter leidet. Trotz aller Verherrlichung des demokratischen Systems, wirkt sich dieses leider nur selten positiv für die breite Bevölkerung aus. Und dafür sind nicht nur die Machthaber verantwortlich, jedes Einzelne trägt eine Verantwortung für sich und sein Umfeld. Ja, und was uns direkt anbelangt, hat sich durch die Pandemie unser Zeitplan komplett verändert, denn «Leidenschaft» hätte bereits 2020 zum Jubiläum erscheinen sollen, aufgrund der Lockdowns jedoch mussten viele Aufnahmen verschoben werden, zudem hatten wir eine weitere Welttour geplant gehabt, die wir komplett streichen mussten, ja und die vielen Einschränkungen haben auch auf anderen Ebenen für ein grosses Durcheinander in der Label-Arbeit und in meinem Leben gesorgt, so dass es viel Zeit und Energie brauchte, um die vielfältigen Herausforderungen und Situationen zu meistern und zu regeln.

(Photo: Nikolai Berulja/ MESMIKA)

– Herzlichen Glückwunsch zum neuen Album, es ist grossartig geworden! Warum hast du dieses mal 4 Jahre für die neue Scheibe gebraucht und bist du mit den Reaktionen der Presse und Fans auf das Album zufrieden?

TILO WOLFF: Die Gründe für die lange Pause nach «Testimonium» waren viele. Zunächst einmal waren wir nach der Veröffentlichung dieses Albums lange auf Tournee. Anschliessend plante ich das Best-Of-Album «Zeitreise», dies sollte aber noch vor dem 30jährigen Jubiläum erscheinen, da ich dieses Jubiläum mit einem neuen Studioalbum feiern wollte. Nachdem wir also «Zeitreise» fertig hatten und auch mit diesem Album viele Konzerte gespielt hatten, machte ich mich an die Arbeit für «Leidenschaft». Ja, und dann brach die Pandemie aus und es wurde recht schnell klar, dass wir das Album nicht rechtzeitig fertigbekommen würden. Da ich aber im Jubiläumsjahr in jedem Fall unserem Publikum etwas präsentieren wollte, unterbrach ich die Arbeiten am neuen Album und erstellte das Konzept für die Jubiläumsbox mit ihren drei aussergewöhnlichen CDs und den vielen Dingen, die sich darin finden lassen. Ja, diese Box nahm also sehr viel Arbeit in Anspruch und erst 2021 konnte ich die Arbeit am neuen Album fortsetzen. Ja, so schnell vergeht die Zeit, dafür hätte es die Jubiläumsbox ohne die Pandemie nie gegeben. Wenigstens eine gute Sache!

- Seit "Sehnsucht" gibt es hin und wieder kritische Stimmen was den Sound von Lacrimosa angeht. Auch dieses Mal hast du Vieles oder fast alles selbst im Studio gemacht. Was ist deiner Meinung nach der Hauptunterschied zu vorigen Lacrimosa Alben und was hast du dieses Mal anders gemacht - auch was Produktion und Aufnahme angeht?

TILO WOLFF: Der grosse Unterschied ist der, dass ich heute – so wie ich das in den ersten Jahren Lacrimosas getan hatte – direkt beim Komponieren bereits aufnehmen kann. Direkter und authentischer geht es nicht! Mir geht es in erste Linie darum, echte Gefühle zu transportieren. Wenn man erst ein halbes Jahr später in ein fremdes Studio kommt und dort versucht sich zu erinnern, welches Gefühl man zum Ausdruck bringen wollte, während man aufnimmt, ist das oftmals etwas kontraproduktiv. Wenn man zum Beispiel die Produktionen von Iron Maiden mit anderen Produktionen aus dem Genre vergleicht, fällt auf, dass viele Produktionen vermeintlich besser produziert klingen. Aber sind sie das? Ich liebe jedes Maiden Album, gerade weil sie so direkt und echt sind! Sie gehen von Herz zu Herz! Mit den alten Alben von Muse ist es das Gleiche. Es gibt viele Bands, die bessere Produktionen haben, aber dieses Feuer von Muse ist einfach echt und könnte sich in einer Hochglanzproduktion nicht so genial entfachen!

- "Leidenschaft" ist am 24. Dezember erschienen. War dieses Release-Datum Zufall oder war das so geplant und es steckt mehr dahinter?

TILO WOLFF: Das war pure Absicht! Nach diesem langen und anstrengenden Entstehungs- und Aufnahmeprozess ist dieses Album für mich, und ich hoffe für viele andere Menschen auch, ein wunderbares Geschenk in meinem Leben. Und Geschenke gibt es an Weihnachten.

- Das Neue Album heißt "Leidenschaft". Eigentlich könnte diesen Titel jedes Lacrimosa Album tragen, da jede Platte von euch voller Leidenschaft und Gefühle ist. Man könnte auch sagen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis du ein Album so nennen wirst. Warum ist gerade jetzt der richtige Moment für diesen Albumtitel?

TILO WOLFF: Immer, wenn ich in die Endphase einer Albumproduktion komme, höre ich mir alles zusammen an und versuche einerseits die visuelle Umsetzung zu erforschen, also das Cover und Artwork, und anderseits ein Wort zu finden, welches das gesamte Album zusammenfasst. Beide Prozesse geschehen intuitiv und plötzlich, als ich das Album in seiner Rohform einmal wieder hörte, stand dieses Wort ‘Leidenschaft’ in meinem Herzen und wollte sich nicht mehr verdrängen lassen. Ja, viele Lacrimosa Alben hätten diesen Titel tragen können, aber keines ist so sehr von den verschiedenen Facetten der Leidenschaft durchdrungen, wie dieses Album.

- Kannst du auch ein paar Worte zu der Cover-Artwork sagen?

TILO WOLFF: Ja, die von der Sonne beschienenen Protagonisten, die dem Betrachter zugewandte, und die dem Betrachter abgewandte Person, beide als Statuen in der Verbindung zum vorhergehenden Album «Testimonium», der aufklärende oder gerade zuziehende Himmel, dies sind wundervolle Momente, die in ein unveränderliches Bild gefangen einen besonderen Zauber entfalten. Hier gibt es viele Möglichkeiten der Interpretationen, was jedes gute Bild bieten sollte. Bei unseren Covern möchte ich immer ein Bild kreieren, das man während der gesamten Dauer des Anhörens des Albums anschauen und sich darin verlieren kann, denn das Cover hat die nicht einfache Aufgabe, die Musik zu visualisieren, und Lacrimosa ist ja keine eindimensionale Musik.

- Hat die Pandemie in irgendeiner Weise Einfluß auf das Songwriting genommen und welche Themen haben dich lyrisch für dieses Album inspiriert? Vor allem, die Stücke wie "Kulturasche" und "Augenschein" sind sehr interessant. Kannst du etwas über diese Songs erzählen?

TILO WOLFF: Bei «Augenschein» gibt es diesen textlichen Bezug zu «Tränen der Sehnsucht», nun im Lichte der Pandemie, wobei diese Nummer ganz klar ein Kind dieser Zeit ist und eine gewisse Momentaufnahme, einen kurzen Blick – Augenschein – darstellt. «Kulturasche» basiert auf einem Song, den ich vor der Pandemie geschrieben hatte und der „Alles wird gut“ hieß. Allerdings war dieser Titel damals schon sarkastisch gemeint. Als das Ganze Covid-Thema dann losging, und die Lage für uns Kulturschaffende und die Kultur im Allgemeinen immer ernster wurde, konnte ich es nicht mehr beim Sarkasmus belassen und habe sozusagen ‚ernst‘ gemacht und ganz konkret angesprochen, was ich gerade empfinde. Dabei ist der Song auch noch eine Ecke härter und dunkler geworden. Diese Nummer ist tatsächlich eine der wenigen politisierenden Songs Lacrimosas und ein Zeitdokument, eine Momentaufnahme, die zu hören ich mich in fünf oder zehn Jahren freue. Ich hoffe, dass man dann in eine böse Zeit und nicht in eine gute Zeit zurückblicken wird.

(Photo: Sergey Platonov / MESMIKA)

- Wenn ich mir das neue Album anhöre, verspüre ich die Atmosphäre von alten Alben von Lacrimosa. Zum Beispiel grossartige "Liebe über Leben" würde ganz toll zu "Stille" passen, aber auch "Führ mich nochmal in den Sturm" oder "Exodus" wecken solche Gefühle. Würdest du mir da zustimmen? Wie würdest du die Aura beschreiben, die "Leidenschaft" umgibt?

TILO WOLFF: Es ist schön dass Du dies so empfindest. Ja, durch die beschriebene Weise der Aufnahme, habe ich mich mehr denn je mit der gesamten Geschichte Lacrimosas verbunden gefühlt und vieles, das ich in mir trage, vertieft und verdichtet sich mehr und mehr und dies fliesst eins zu eins in die Musik ein.

- Welcher Song auf dem neuen Album charakterisiert und vertritt Lacrimosa 2021/22 am meisten?

TILO WOLFF: Oha! Das ist schwer, denn Lacrimosa ist – genau wie wir Menschen, genau wie ich – nicht eindimensional. Heute Morgen wäre mir besser niemand über den Weg gelaufen. Es kommt also immer ein bisschen auf die Situation an. Aber ich denke «Liebe über Leben» wäre die Nummer, die ich von diesem Album auf die einsame Insel mitnehmen würde, aber Gottseidank darf ich das ganze Album mitnehmen!

- Lass uns noch kurz über etwas anderes reden. Du hast mal in einem alten Interview (1997 Tape-TV) gesagt, dass die 90er in künstlerischer Hinsicht "gesichtlos und farblos" seien. Siehst das jetzt - 2,5 Dekaden später - noch genauso? Sah es in den `00-er und `10-er besser aus? Und wie sieht das heute aus?

TILO WOLFF: Haha, sehr gut! Ja, wir kamen damals aus den 80ern, ein Jahrzehnt grossartigster Musik, wir hatten noch die 70er in den Ohren, unfassbare Bands, ja, und dann kamen die 90er und Tekkno. Das war schon ein ziemlicher Mist. Und als Hoffnungsträger für die Gitarrenfans kam Grunge auf, aus damaliger Sicht eine undefinierte Suppe aus Punk, Country und Metal und wir fragten uns, ob das jetzt die Zukunft des Metals sein soll? Rückblickend würde ich das ‘farblos’ zurücknehmen, aber wirklich gut war das Jahrzehnt trotzdem nicht. Die Entwicklung seitdem in den 00ern und den 10ern war auf verschiedenen Ebenen sehr interessant, viele, tolle, neue Musik ist entstanden, in allen Genres!

- Bleiben wir bei der 90ern. Vor 25 Jahren habt ihr wunderbare "Dark Winter Nights" Konzerte mit Sentenced gespielt, die es mittlerweile gar nicht mehr gibt, und mit The Gathering, die sich auch sehr verändert haben. Was hast du für Erinnerungen an diese Shows?

TILO WOLFF: Diese Festival-Tour war damals die Idee von Bogdan Kopec, einem tollen Musikmanager, der lange Jahre z.B. Kreator gemanaged hatte, und mir, mit dem Ziel, Metal und Gothic zu verbinden. Seit ich 1994 die Single «Schakal» veröffentlicht hatte, wurde mir bewusst, wie weit die Lager auseinander waren. Es gab damals keinen Gothic-Metal und die DJs der Gothic-Clubs sagten mir, «Schakal» sei zu hart und könne nicht gespielt werden und die DJs im Metal sagten, «Schakal» sei zu düster und könne nicht gespielt werden. Da ich aber schon immer Metallica und Bauhaus gehört hatte, war die musikalische Zusammenführung für mich eine logische Konsequenz. Als ich dann merkte, dass ich damit alleine dastand, lancierten wir diese Festival-Tour, um den Leuten zu zeigen, dass es ausserhalb des eigenen Tellerrandes auch gute Musik gibt. Das lief aber damals alles andere als friedlich ab, wir hatten richtige Schlägereien in den Konzerten zwischen den Gothic- und den Metalfans. Aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbar, aber damals waren das zwei verfeindete Lager und diese Festival-Tour war weltweit der erste Versuch, Gothic und Metal zu versöhnen!

- Vor Kurzem hat Lacrimosa 30-jähriges Jubiläum gefeiert. Jetzt, nach mittlerweile 32 Jahren, wie fällt dein persönliches Resümee aus?

TILO WOLFF: Um es auf ein Wort zu bringen: Dankbarkeit!

Vielen lieben Dank Tilo, dass du für uns Zeit gefunden hast!

TILO WOLFF: Ich danke Dir!


Denis Köln

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